Der 16-Milliarden-Franken-Klimaplan

Dieser Artikel blickt hinter die Kulissen der milliardenschweren Pläne und enthüllt die sechs wichtigsten Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung. Er zeigt, was es wirklich braucht, um eine kohlenstoffneutrale Zukunft zu konstruieren. Eine kürzlich vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) in Auftrag gegebene umfassende Kostenschätzung für die Schweizer Klimaziele bis 2050 lüftet den Schleier und enthüllt die wahren Kosten, logistische Fallstricke und unerwarteten Kompromisse. Solche Berichte sind ein Realitätscheck, der zeigt, was es wirklich bedeutet, eine komplette Infrastruktur von Grund auf zu errichten – von den Pipelines über die Finanzierungsmodelle bis hin zum schieren Energiebedarf des Systems.

Stefano Marconi

10/16/20255 min read

Die Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoff (Carbon Capture and Storage, CCS) wird in der Klimadebatte oft als technologische Wunderwaffe oder sündhaft teure Utopie dargestellt. Doch die Realität der Umsetzung im nationalen Massstab ist weitaus komplexer, nuancierter und ökonomisch überraschender, als es die meisten Schlagzeilen vermuten lassen. Sobald abstrakte Debatten aufhören und Ingenieure und Ökonomen mit der Planung beginnen, treten verblüffende Wahrheiten zutage.

Die grössten Kosten liegen nicht dort, wo man sie erwartet

Ein Blick in die detaillierte Kostenplanung für ein nationales CCS-System offenbart eine Kostenstruktur, die gängige Annahmen auf den Kopf stellt. Zunächst die Gesamtsumme: Der Aufbau und Betrieb des Systems für die Schweiz wird im Basisszenario auf 16,3 Milliarden CHF bis zum Jahr 2050 geschätzt, mit einer wahrscheinlichen Bandbreite zwischen 11,24 und 21,44 Milliarden CHF.

Die wirklich überraschende Erkenntnis liegt jedoch in der Verteilung dieser Kosten. Die landläufige Vorstellung, dass die geologische Endlagerung – das Vergraben des CO2 – der teuerste und komplizierteste Teil sei, erweist sich als falsch. Die Daten aus dem Schweizer Basisszenario zeichnen ein völlig anderes Bild:

  • CO2-Abscheidung: 56 %

  • Pipelinetransport: 30 %

  • Sonstiger Transport: 10 %

  • Speicherung: 3 %

Die eigentliche Speicherung macht also nur einen Bruchteil des Budgets aus. Der Grund dafür liegt in der Komplexität des vorgeschalteten Verfahrens: Die CO2-Abscheidung ist ein energieintensiver industrieller Prozess, der erhebliche Mengen an Wärme und Strom benötigt, um das Treibhausgas aus den Abgasströmen zu filtern. Die grössten finanziellen und technischen Herausforderungen liegen somit nicht im Untergrund, sondern in der Spitzentechnologie an der Emissionsquelle und dem Aufbau eines gewaltigen Pipelinenetzes zur Beförderung des Gases.

Zeit ist nicht nur Geld, sie ist ein Vermögen

Bei massiven Infrastrukturprojekten wird die Planungssicherheit zu einem der entscheidenden wirtschaftlichen Hebel. Verzögerungen bei kritischen Komponenten können astronomische Folgekosten verursachen, wie die Schweizer Studie eindrücklich quantifiziert.

Eine fünfjährige Verzögerung beim geplanten Pipelinebau würde die Gesamtkosten des Systems um 813 Millionen CHF in die Höhe treiben. Mit einem Gesamtpreis von 17,1 Milliarden CHF wird dieses Szenario zu einer der teuersten Alternativen.

Warum ist diese Verzögerung so kostspielig? Weil das bereits an den Industrieanlagen abgeschiedene CO2 in der Zwischenzeit transportiert werden muss – und zwar mit weniger effizienten und teureren Mitteln wie Zügen. Dies erfordert den Bau teurer temporärer Infrastrukturen wie Verflüssigungsanlagen und Terminals. Sobald die Pipeline dann endlich fertiggestellt ist, werden diese Bauten zu sogenannten «Stranded Assets» – verlorenen Investitionen. Das unterstreicht eine zentrale Erkenntnis: CCS ist ebenso eine logistische und politische Planungsaufgabe wie eine technologische Herausforderung.

Dies ist keine Zukunftsvision – es ist bereits eine globale Industrie

Entgegen der landläufigen Meinung ist CCS kein rein theoretisches Konzept. Die Technologie ist bereits heute eine etablierte globale Industrie. Daten aus einem Bericht des Weltenergierates zeigen, dass weltweit rund 65 kommerzielle CCS-Anlagen in Betrieb sind.

Die geografische Verteilung ist dabei bemerkenswert. Die Mehrheit dieser Anlagen befindet sich in Nordamerika (33 Anlagen) und China (16 Anlagen), die sich als Vorreiter in der praktischen Anwendung etabliert haben.

Europa hingegen hinkt mit nur 9 in Betrieb befindlichen Anlagen noch hinterher. Allerdings signalisieren 140 Projekte, die sich in verschiedenen Entwicklungsstadien befinden, eine beeindruckende Aufholjagd. Diese Dynamik wird durch einen massiven Politik- und Investitionsschwenk angetrieben, der von Initiativen wie der Carbon-Management-Strategie der EU-Kommission und dem Net-Zero Industry Act befeuert wird. CCS ist damit eine reale Technologie mit einer dynamischen geopolitischen Landschaft, in der Europa nun versucht, schnell aufzuschliessen.

Wer soll es bauen? Die Antwort ist überraschend differenziert

Die Frage, ob eine nationale CCS-Infrastruktur staatlich oder privat betrieben werden sollte, führt zu einem komplexen ökonomischen Kompromiss.

Auf den ersten Blick ist die Sache klar: Eine staatliche Finanzierung ist günstiger. Die Schweizer Studie berechnete, dass eine vollständige öffentliche Finanzierung die Gesamtkosten bis 2050 aufgrund niedrigerer Zinssätze um 419 Millionen CHF (etwa 3,0 %) senken könnte. Der Haken dabei ist, dass diese Kosteneinsparung nur entsteht, weil der Staat das gesamte finanzielle Ausfallrisiko übernimmt.

Die Analyse kommt daher zu einem differenzierten Schluss: Ein Hybridmodell könnte die beste Lösung sein. Für Teile des Systems, die ein natürliches Monopol darstellen, wie das weitverzweigte Pipeline-Netzwerk, ist eine staatliche Beteiligung oder Finanzierung ökonomisch sinnvoll. In anderen Bereichen hingegen, wie bei der CO2-Abscheidung an den einzelnen Anlagen, wo Innovation und betriebliche Effizienz entscheidend sind, könnte ein marktbasierter Wettbewerb unter privaten Akteuren vorteilhafter sein, um Kosten zu senken und technologische Fortschritte zu fördern.

Die versteckte «Energiesteuer» der Kohlenstoffabscheidung

Die Technologie zur Abscheidung von Kohlenstoff ist aus energetischer Sicht alles andere als kostenlos; sie funktioniert wie eine zusätzliche, energiehungrige Industrie, die in die nationale Energieplanung integriert werden muss.

Die Projektion aus der Schweizer Studie ist eindrücklich: Im Jahr 2050 würde das nationale CCS-System schätzungsweise 2,4 TWh Strom und 4,8 TWh Wärme benötigen. Um diese Zahlen einzuordnen: Wird die benötigte Wärme durch effiziente Wärmepumpen erzeugt, liegt der gesamte zusätzliche Strombedarf bei etwa 4 TWh. Das entspricht ungefähr 5 % des gesamten prognostizierten Strombedarfs der Schweiz im Jahr 2050.

Diese Zahl ist eine eindringliche Erinnerung daran, dass es bei der Dekarbonisierung keine Patentlösungen gibt. Sie verdeutlicht eine strategische Herausforderung der Energiewende: Diese neue Nachfrage von 4 TWh muss durch zusätzliche saubere Energiequellen wie Solar- und Windkraft gedeckt werden, um zu vermeiden, dass die Emissionen lediglich von einer Stelle des Systems an eine andere verschoben werden.

Jenseits der Schornsteine: Die nächste Grenze ist der Ozean

Während sich die bisherigen Punkte auf die Abscheidung von CO2 an industriellen Punktquellen konzentrieren, richtet sich der Blick der Forschung zunehmend auf die Entnahme von CO2 direkt aus der Umwelt (Carbon Dioxide Removal, CDR). Hierbei rückt der Ozean als potenzieller Wendepunkt in den Fokus.

Ein McKinsey-Bericht verdeutlicht das immense Potenzial mit beeindruckenden Zahlen:

  • Der Ozean speichert über zehnmal mehr Kohlenstoff als die Atmosphäre, Pflanzen und Böden zusammen.

  • Das Gesamtpotenzial für die jährliche CO2-Entnahme aus dem Ozean könnte mehr als 10 metrische Gigatonnen betragen.

Doch bei allem Potenzial ist journalistische Vorsicht geboten. Wie der McKinsey-Bericht betont, mangelt es bei den meisten vorgeschlagenen Ansätzen noch an einem Konsens über die Methodik, und einige entbehren einer umfassenden wissenschaftlichen Validierung. Dennoch werden vielversprechende Methoden wie Direct Ocean Capture (DOC) und Ocean Alkalinity Enhancement (OAE) intensiv erforscht. DOC könnte dabei energieeffizienter sein als die Abscheidung aus der Luft (Direct Air Capture), da die CO2-Konzentration im Meerwasser höher ist. Zudem bieten diese Technologien potenzielle Zusatznutzen: OAE könnte beispielsweise helfen, die Versauerung der Ozeane umzukehren, was die Technologie von einem reinen Entfernungsinstrument zu einem Werkzeug für die ökologische Wiederherstellung machen würde.

Schlussfolgerung

Die harte Realität, die sich hinter den Milliardenbeträgen verbirgt, ist eine Kette von schwierigen Kompromissen: zwischen öffentlichen Risiken und privater Innovation, zwischen kurzfristigen Logistikkosten und langfristiger Klimasicherheit und zwischen dem enormen Energiebedarf der Reinigung und dem Ziel einer sauberen Energieversorgung.

Obwohl diese Technologien kein Allheilmittel sind, zeigen die Daten, dass sie ein notwendiges Werkzeug für Industrien mit schwer vermeidbaren Emissionen wie der Zementherstellung oder der Abfallverwertung darstellen. Sie sind ein entscheidender, wenn auch teurer Baustein für eine klimaneutrale Zukunft.

Während wir also diese gewaltigen Systeme zur Steuerung unseres Kohlenstoffs entwickeln, lautet die entscheidende Frage nicht nur, ob wir es können, sondern ob wir bereit sind, den vollen Preis zu zahlen – in Franken, in Energie und in politischem Willen –, um uns den Weg zu einem stabilen Klima zu bahnen.